Gott, die Quelle des Lebens

Jeder Tod mahnt uns an die Sterblichkeit des Menschen, auch an die eigene Sterblichkeit. Angesichts der Ewigkeit Gottes wird sie besonders deutlich erlebt.

Von Gott bekennen wir: "Ehe die Berge geboren wurden, die Erde entstand und das Weltall, bist du, o Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit" (Ps 90,2). Von uns aber gilt: "Du lässt die Menschen zurückkehren zum Staub und sprichst: 'Kommt wieder, ihr Menschen!' Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht. Von Jahr zu Jahr säst du die Menschen aus; sie gleichen dem sprossenden Gras. Am Morgen grünt es und blüht, am Abend wird es geschnitten und welkt... Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Beschwer, rasch eilt es vorbei, wir fliegen dahin" (Ps 90,3-6.10).

Der Beter des Psalms macht die Erfahrung: "Meine Tage schwinden dahin wie Schatten, ich verdorre wie Gras. Du aber, Herr, thronst für immer und ewig, dein Name dauert von Geschlecht zu Geschlecht... Darum sage ich: Raff mich nicht weg in der Mitte des Lebens, mein Gott, dessen Jahre Geschlecht um Geschlecht überdauern! Vorzeiten hast du der Erde Grund gelegt, die Himmel sind das Werk deiner Hände. Sie werden vergehen, du aber bleibst; sie alle zerfallen wie ein Gewand; du wechselst sie wie ein Kleid, und sie schwinden dahin. Du aber bleibst, der du bist, und deine Jahre enden nie" (Ps 102,12-13.25-28).

Der Beter, der seine Vergänglichkeit und mit ihr die Vergänglichkeit der ganzen Schöpfung erleidet, macht Gott keinen Vorwurf. Wie könnten wir Menschen als endliche Geschöpfe Gott, unserem Schöpfer, den Vorwurf machen, dass er ewig ist! Und doch appelliert der Beter, ohne es ausdrücklich zu sagen, in seiner Hinfälligkeit an den ewigen Gott, die Quelle des Lebens. Es ist ein Appell, leise, verborgen, unausgesprochen, aber doch voll stiller Hoffnung. Gibt es einen Grund für diese Hoffnung?

Jesus sagt von Gott, seinem Vater: "Denn wie der Vater das Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben in sich zu haben" (Joh 5,26). "Das Leben in sich zu haben, ist sowohl eine griechische wie auch eine biblische Gottesprädikation" (Herbert Vorgrimler, Gotteslehre I, Graz-Wien-Köln 1989, S. 48).

Gott hat das Leben in sich. Darin unterscheiden wir Menschen uns von Gott. Wir haben das Leben nicht in uns selbst. Wir haben es von anderen empfangen, von den Eltern, von den Vorfahren, von Gott. Unser Leben hat einen Anfang. Wir spüren, dass es dahinschwindet. Es geht einem Ende zu. Der Vorrat an Wasser des Lebens ist nicht unerschöpflich. Wir haben die Quelle des Lebens nicht in uns selbst.

Gott hingegen hat das Leben nicht von einem anderen bekommen. Alles Leben kommt von ihm. Er hat das Leben in sich. Er ist selbst die Quelle des Lebens.

"Denn wie der Vater das Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben in sich zu haben": Mit diesem Wort offenbart Jesus seine Göttlichkeit. Deshalb heißt es zu Beginn des Johannesevangeliums: "In ihm war das Leben" (Joh 1,4).

Gott ist bereit, uns aus der Quelle seines Lebens das Wasser des Lebens zu geben. Abraham hat ihm geglaubt, ihm, "dem Gott, der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft" (Röm 4, 17). So wie Gott allein das Leben in sich hat, ist auch er allein in der Lage, Leben zu schenken und die Toten lebendig zu machen. Wie er dem Sohn gegeben hat, Leben in sich zu haben, so hat er auch dem Sohn gegeben, lebendig zu machen: "Denn wie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig, wen er will" (Joh 5,21). Deshalb kann Jesus sagen: "Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben" (Joh 11,25-26).

Mit diesen Worten lädt Jesus uns ein, an ihn zu glauben und uns von ihm das Leben schenken zu lassen.

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Text: Bischof Reinhard Lettmann (+)
(aus dem Buch: Reinhard Lettmann: Dir will ich singen und spielen – Als Christ auf dem Weg.
Verlag Butzon&Bercker, Kevelaer, 1992)
Foto: Michael Bönte, Kirche+Leben